- Das Haus am See -
"Ich hoffe, bei dieser komischen Hütte hat man Empfang... hier draußen, im Niemandsland, bekomme ich einfach kein Netz!", fluchte Jessica und streckte ihr Smartphone aus dem geöffneten Fenster.
"Kannst du nicht mal eine Minute das dämliche Teil weglegen?", seufzte Liam, der gähnend auf dem Beifahrersitz saß. "Und mach das Fenster zu! Sonst holen wir uns bei der Kälte noch alle den Tod!"
"Er hat Recht, Jess! Mir ist schon total kalt!"
Maya, die neben Jessica auf der Rückbank saß, zog den Reißverschluss ihrer Winterjacke noch etwas weiter nach oben.
"Ist ja gut!" Das Mädchen mit den langen blonden Haaren rollte mit den Augen und kurbelte das Fenster des Autos nach oben.
"Brauchen wir noch lange?", fragte Liam und streckte sich ausgiebig.
"Sollte nur noch ein paar Minuten dauern", murmelte Noah, der den Wagen fuhr und konzentriert die Straße beobachtete.
Das aufkommende Schneetreiben machte es nicht gerade leicht in der Finsternis etwas zu erkennen, auch wenn der weiße Schnee das Licht der Scheinwerfer reflektierte.
Noah rechnete jeden Moment damit, dass ihnen ein Reh oder ähnliches vor die Karre sprang.
Sein Dad würde ihn umbringen, wenn auch nur der kleinste Kratzer im Lack zu sehen war.
"Leute! Könnt ihr jetzt endlich mal Ruhe geben?", rief er und schlug mit der Hand auf das Lenkrad.
Jessica und Maya hatten schon wieder eine Diskussion über den Handyempfang gestartet.
"Ist ja gut, ist ja gut". Beleidigt ließ Jess ihr Smartphone in ihrer Handtasche verschwinden.
"Es ist jetzt schon ein suuuper Wochenende", scherzte Liam, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute aus dem Fenster.
Schnee, Bäume und Finsternis.
"Was hat Daniel eigentlich geritten, ausgerechnet am abgeschiedensten Ort der Welt dieses Haus zu besorgen?", fügte er an.
"Hat ihm sein Onkel vermittelt oder so", antwortete Maya, "die Landschaft soll im Winter atemberaubend sein, auf dem See kann man Schlittschuhlaufen und ein Lagerfeuer draußen im Schnee wird auch niemanden stören."
Jessica schnaubte fröstelnd. "Wen soll das HIER auch schon stören? Gibt doch bestimmt keine Menschenseele weit und breit."
"Chillt mal, Leute", versuchte Noah die Gruppe zu beruhigen, "vielleicht wird das Wochenende besser, als wir denken."
Der Wagen bog in eine kleine Seitenstraße ein. Mehr ein Feldweg, als eine Straße.
Das Auto kam nur mühsam voran, denn so weit außerhalb der Stadt war natürlich kein Schnee geräumt worden.
Knirschend bahnten sich die Reifen ihren Weg.
Noah kniff die Augen zusammen, denn mittlerweile konnte man so gut wie gar nichts mehr erkennen.
Die hohen Bäume verschluckten jegliches Mondlicht und auch die Reflektion der Scheinwerfer half nicht, um durch den langsam aufkommenden Schneesturm zu blicken.
Nach einigen Minuten lichtete sich der Wald.
Den wunderschönen See konnte man in diesem Schneetreiben nur erahnen.
Normalerweise musste der Anblick wunderschön sein. Wie das Licht des Mondes sich in der glatten Eisoberfläche spiegeln würde.
Doch nun war er von einer dicken Schneedecke verschleiert.
"Toll", seufzte Jessica, "wie war das noch gleich mit Schlittschuhlaufen? Das können wir bei diesem Wetter wohl vergessen."
"Genau wie das Lagerfeuer", fügte Maya an.
Langsam rollte der Wagen den Hügel hinab.
An der einen Seite des Sees ragte eine gigantische, finstere Gestalt in den Himmel empor.
Das alte Herrenhaus wirkte bedrohlich. Die eine Seite war vom Mondlicht beschienen, wodurch die andere Seite einen finsteren Schatten auf das gefrorene Wasser warf. Die Umgebung wirkte dadurch nur noch bedrohlicher.
"Das ist ja die reinste Villa!", merkte Liam erstaunt an, "dachte, wir zwängen uns jetzt alle in so einer kleinen Hütte zusammen."
"Das Ding macht mir Angst", murmelte Jess.
"Quatsch!", widersprach Liam, "das wird bestimmt richtig spannend! Wer weiß, was wir in so einem alten Gemäuer wohl finden? Vielleicht sogar ein paar wertvolle Sachen, die wir auf ebay verticken können!"
Er blickte grinsend in den Rückspiegel zu Jessica.
"Oooder vielleicht gibt es da ja auch gruuuselige Geister!"
"Du bist so ein Spinner!", warf Maya ein und versetzte Liam einen leichten Schlag gegen die Schulter.
"Da vorne steht Daniels Wagen", merkte Noah an, als sie das Haus fast erreicht hatten.
"Die letzten Meter müssen wir laufen. Der Schnee liegt hier einfach zu hoch, als dass ich die Karre auch nur noch ein Stück weiter bekomme."
Mit schweren Schritten und Gepäckbeladen bahnten sich die Teenager einen Weg durch den Schnee.
Schließlich kamen sie am Gebäude an. Von Nahem wirkte es nur noch größer und noch bedrohlicher.
Der Eingang war mit einer Veranda verschönert, an der ein paar Stufen hinauf zur Tür führten.
In einer Ecke standen ein alter Tisch und ein paar Stühle.
Früher einmal mussten die ehemaligen Bewohner wundervolle Sommer hier verbracht haben.
Ein entspannter Nachmittag auf der Veranda, während die Sonnenstrahlen sich im klaren Seewasser spiegelten.
Ein traumhafter Anblick.
Doch man sah dem alten Gemäuer an, dass solche Zeiten lange vorbei waren.
Die morschen Bretter und die alten, nicht mehr ganz intakten Fensterläden knarzten, während der Wind heulend um das Haus wehte.
In der Villa war es finster und ruhig. Nur hinter einigen Fenstern im Erdgeschoss brannte ein leichtes, flackerndes Licht.
Liam hob den Arm und klopfte energisch gegen die Tür.
"Daniel? Dan, mach auf! Wir frieren uns hier draußen den Arsch ab!"
Die Gruppe wartete einige Sekunden.
Im Haus blieb es still.
„Will der uns verarschen?“, schnaubte Liam und hämmerte energisch gegen die Tür.
Noah war die Treppen wieder hinter gelaufen und schaute an dem gigantischen Haus empor, ob irgendwo ein weiteres Licht zu sehen war. Hinter den matten Scheiben blieb jedoch alles dunkel.
„In den oberen Stockwerken regt sich nichts“, merkte er an und ging wieder zur Gruppe zurück.
„Wenn der sich einen schlechten Scherz mit uns erlaubt, dann kann er was erleben!“, knurrte Jessica frierend.
„Dan! Jetzt komm schon!“, rief Liam erneut, bis er schließlich aufgab.
„Lasst uns mal ums Haus gehen, vielleicht finden wir ja einen weiteren Eingang oder so“, schlug Maya vor.
„Bist du verrückt?“ Jess wirkte nicht begeistert. „Bei dem Schneesturm bleibe ich schön hier auf der windgeschützten Veranda“.
„Dann schlage ich vor, dass Jess mit Liam hier bleibt, falls Daniel uns doch noch bemerkt. Maya und ich schauen nach, ob es eine Hintertür gibt. Klingt das nach einem Plan?“, schlug Noah vor, während er sich seine schulterlangen, braunen Haare aus dem Gesicht strich.
Alle nickten.
„Gut, dann treffen wir uns hier einfach in zehn Minuten wieder.“
Noah und das Mädchen mit den lockigen, hellbraunen Haaren liefen die Treppe hinunter und verschwanden in der Dunkelheit.
„Ich bring' Daniel um!“, fluchte Jessica, die mittlerweile am ganzen Leib zitterte.
Mittlerweile war ihr nicht nur kalt, sondern auch eine leichte Angst hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen.
Schon als kleines Kind fürchtete sie sich vor der Dunkelheit und das große, alte Herrenhaus machte es nicht besser.
Sie hasste es, denn mit diesem Gefühl fühlte sie sich schwach. Etwas, was gar nicht zu ihrem ansonsten makellosen Auftreten passte.
Liam hatte sich mittlerweile gegen die Wand neben der Tür gelehnt.
„Den Abend habe ich mir echt gaaanz anders vorgestellt“, seufzte er und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was zur Hölle denkt Dan sich denn. Aber er muss ja hier sein, schließlich steht sein Auto vorm Haus.“
Er beugte sich zu einem der Fenster.
„Hat der Kasten hier eigentlich keinen Strom? Da brennt doch höchstens 'ne Kerze.“
Sein Gesicht war nun so nah am Glas, dass er es fast mit der Nasenspitze berührte.
Der Raum war nicht sehr groß, wahrscheinlich eine Art Arbeitszimmer.
Ein Schreibtisch an der Wand gegenüber des Fensters und einige alte Regale, die fast komplett leer waren, standen herum.
Ansonsten war der Raum weitestgehend leer und Liam konnte sowieso nicht allzu viel mehr erkennen, da alles nur spärlich durch das flackernde Licht aus dem Flur beleuchtet wurde.
Jessica blickte durch das Fenster auf der anderen Seite des Eingangs.
Es schien ein kleines Badezimmer zu sein, wahrscheinlich für Gäste.
Sie konnte eine alte Badewanne direkt unter dem Fenster erblicken.
Der restliche Raum war in Dunkelheit gehüllt, da die Tür geschlossen war und somit kein Licht aus dem Flur hereindrang.
„Hey! Moment!“, rief Liam plötzlich.
„Was ist los?“
Es war nur kurz, aber es hatte sich eindeutig ein Schatten am Türspalt vorbei bewegt.
„Denkst du wirklich, dass wir einen zweiten Eingang finden?“
Mayas Hose war mittlerweile komplett durchnässt. Sie hatte nicht damit gerechnet, sich heute durch hüfthohen Schnee zu kämpfen.
„Es ist zumindest einen Versuch wert“, antwortete Noah und versuchte vor dem Mädchen eine Schneise durch den Schnee zu bahnen.
„Nicht so schnell, ich komme kaum hinterher!“, merkte sie an.
Doch Noah kämpfte sich nur noch schneller voran.
Er wollte seine Freunde so schnell wie möglich aus der Kälte und hinein ins hoffentlich warme Haus bringen. Vor allem Maya.
„Irgendwo muss doch eine Hintertür sein“, sagte er verbissen, „so eine große Villa muss doch so was wie einen Eingang für Bedienstete oder so haben.“
Mittlerweile hatten sie das Haus halb umrundet.
Dann stieß Noah mit dem Fuß gegen etwas hartes.
„Was ist das denn?“, murmelte er und versuchte den Schnee beiseite zu schieben.
Recht schnell sah er, was sich da verbarg.
„Hey! Das ist eine Kellerklappe! Wenn wir sie freilegen können wir garantiert endlich ins Haus!“
Er drehte sich zu Maya um. Doch diese war verschwunden.
„Hast du etwas gesehen?“
Jessica kam zu Liam herüber und Blicke ebenfalls durch das Fenster.
„Ich glaube, da ist gerade jemand an der Tür vorbeigelaufen. Bin mir aber nicht ganz sicher.“
Jessica schnaubte.
„Bestimmt Daniel, der sich über uns kaputt lacht.“
Sie ging hinüber zur Tür und schlug energisch dagegen.
„Dan! Jetzt mach endlich die verdammte Tür auf!“, fluchte sie.
Wieder schlug sie dagegen.
Dann sprang die Tür mit einem lauten Geräusch auf.
Jessica wich erschrocken einen Schritt zurück.
Liam legte ihr grinsend die Hand auf die Schulter.
„Du hast ja einen stärkeren Schlag als ich dachte, meine Liebe.“
Jess rollte mit den Augen.
„Lass uns rein gehen, ich bleibe keine Sekunde länger in dieser Kälte“, sagte sie, packte ihre Tasche und betrat das alte Haus, Liam folgte ihr.
„Maya?“, rief Noah in die Dunkelheit. „Hey, wo bist du?“
Keine Antwort.
Kurz überlegte er, zurück zu gehen und nach ihr zu suchen.
Aber wo sollte sie schon hin gegangen sein?
Wahrscheinlich zurück zu den anderen, wo es mehr Schutz vor dem Sturm gab.
Energisch begann er den Schnee beiseite zu schaufeln und eine hölzerne Luke kam zum Vorschein.
Sie war alt und morsch. Selbst wenn sie verschlossen war, konnte er sie wahrscheinlich mit Leichtigkeit eintreten.
Doch zu Noahs Überraschung war sie nicht verschlossen.
„Maya?“, rief er erneut, „ich habe eine Luke gefunden, wir können endlich ins Warme!“
Keine Antwort.
Zögerlich wandte er sich wieder der morschen Tür zu.
Es knarzte und knackte laut, als er zuerst die eine, dann die andere Seite öffnete.
Vor ihm erstreckte sich eine Treppe, welche hinab in die Finsternis führte.
Er zögerte einen Moment und kramte in den Taschen seiner Hose.
„Gut, dass ich mir das Rauchen doch noch nicht abgewöhnt habe“, grinste er und zog ein Feuerzeug hervor.
Dann stieg er in den Keller hinab.
„Dan?... Daniel? Das ist NICHT lustig!“, rief Jessica in die Stille des düsteren, schwach erleuchteten Flures hinein.
Die beiden stellten ihr Gepäck ab und gingen langsam den Korridor entlang.
Liam warf einen kurzen Blick in das Arbeitszimmer, in das er schon von draußen hinein geschaut hatte, jedoch konnte er nichts Neues entdecken.
„Ich muss mich erst mal frisch machen. Ich sehe garantiert schrecklich aus!“, seufzte Jessica und zupfte an ihren Haaren herum.
„Wie eine Vogelscheuche“, erwiderte Liam und rollte mit den Augen.
„Hier vorne ist ein Badezimmer, ich bin gleich wieder da. Du kannst solange ja schon mal nach dem Idioten suchen“, fügte sie an.
„Daniel kann sich auf was gefasst machen, wenn ich ihn in die Finger kriege“, bestätigte der Schwarzhaarige und streckte sich ausgiebig. „So, wo könnte er stecken?“
Jessica verschwand in dem kleinen Badezimmer, während Liam weiter den langen Flur entlang ging.
Am Ende des Gangs war eine Tür leicht geöffnet. Von dort schien das flackernde Licht zu kommen. Es konnte nur von einer Kerze stammen. Hinter dem Türspalt tanzten die Schatten hin und her.
Hatte sich dort wieder etwas bewegt? Nein, musste Einbildung gewesen sein.
Wieder rief Liam nach seinem Freund.
„Daniel? Komm schon, wir wissen, dass du da bist! Deine Karre steht in der Einfahrt!“
Vorsichtig öffnete er die Tür.
Der Raum dahinter schien das Wohnzimmer zu sein. Oder eines der Wohnzimmer. Bei der Größe des Hauses gab es wahrscheinlich mehrere.
Ein großes Sofa stand in der Mitte des Raumes, umringt von einigen Sesseln, einem kleinen Tisch und vereinzelten Deko-Elementen.
Vor dem Sofa an der Wand prunkte ein prachtvoller, alter Kamin.
„Scheiße, Daniel. Du hättest ruhig mal ein kleines Feuerchen für uns anzünden können. Hier drin ist es ja fast so eisig wie draußen.“
Es fröstelte ihn leicht. Der Zahn der Zeit hatte an dem alten Haus genagt und überall gab es Ritzen und Spalten, durch die der Wind pfiff. Was hatte Daniel sich nur dabei gedacht das Wochenende ausgerechnet hier verbringen zu wollen? Noch dazu im Winter.
Auf dem kleinen Couchtisch brannte eine einzelne Kerze. Die einzige Lichtquelle im gesamten Haus.
Energisch betätigte Liam den Lichtschalter. Nichts.
„Verdammt, der Kasten hat tatsächlich keinen Strom... Vielleicht gibt es ja im Keller einen Generator oder so was“, überlegte er.
Der Junge ging hinüber zum Tisch und hob den Kerzenständer hoch.
„So, wo ist der Keller?“
Er schaute sich um. Wahrscheinlich führte von der Küche aus ein Weg hinunter, das war bei alten Häusern so üblich gewesen. Doch wo war die Küche?
Er öffnete eine Tür an der Westseite des Raumes und fand sich in einem weiteren langen Flur wieder.
„Das ist hier alles noch viel größer, als es von außen aussieht...“, stellte er fest und betrat den Gang.
Mehrere Türen führten in weitere Räume und am Ende des Gangs konnte Liam eine Treppe erkennen, die in das obere Stockwerk führte.
Er schlenderte den Flur entlang, hinüber zur ersten Tür und versuchte sie zu öffnen.
Verschlossen.
„Gibt's doch nicht“, fluchte er leise.
Er wollte sich gerade der nächsten Tür zuwenden, dann hielt er inne.
Ein Poltern. Aus dem ersten Stock.
Langsam tastete sich Noah die rutschige Treppe hinunter.
Da die morschen Holztüren alles andere als Wetterdicht waren, hatte sich einiges an Schnee angesammelt, der geschmolzen war und die Stufen in eine rutschige Falle verwandelt hatte.
Das Feuerzeug spendete weniger Licht, als er gehofft hatte.
Schließlich erreichte er das Ende und tastete die Wände nach einem Lichtschalter ab.
Vergeblich.
„Na, immerhin bin ich drin“, seufzte Noah und schaute sich um.
Viel war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Der Kellerraum war groß und vollgepackt mit allerhand Krempel.
Eine alte Stehlampe stand direkt neben ihm, etwas weiter davon entfernt ein Stapel Autoreifen und ein Tisch auf dem Gartenwerkzeuge herumlagen.
In einer anderen Ecke stapelte sich ein Haufen Feuerholz. Bei der Feuchtigkeit war es garantiert nicht mehr zu gebrauchen.
„Maya?“, versucht er es noch einmal und rief die Kellertreppe hinauf.
Doch wieder erhielt er keine Antwort außer das Heulen des Windes.
Langsam machte er sich doch etwas Sorgen.
Wäre sie zu den anderen zurück gegangen hätte sie ihm doch wenigstens Bescheid gesagt.
Vielleicht wollte sie einfach nur nicht mit ihm allein sein?
Noah schüttelte den Kopf um den Gedanken direkt wieder zu verbannen.
Erst letzte Woche war er mit Maya auf einem Date gewesen.
Es war etwas komisch und sie beide waren sich nicht sicher gewesen, ob das Ganze eine gute Idee war.
Schließlich waren sie seit der Grundschule befreundet und diese Freundschaft durch eine mögliche Beziehung aufs Spiel zu setzen verunsicherte sie.
Aber im Endeffekt war es ein schöner Tag gewesen. Maya hatte also keinen Grund ihn zu meiden.
Durch den Keller, nach oben ins Haus und zur Vordertür.
Dort würde Maya mit den anderen auf ihn warten.
Einige Sekunden verharrte Liam und lauschte.
Nichts. Stille.
Aber eben hatte er eindeutig ein Geräusch aus dem oberen Stock gehört.
Langsam ging er Richtung Treppe. Aufmerksam lauschend.
Schließlich erreicht er die unterste Stufe und hielt die Kerze nach oben, in der Hoffnung, dass am Ende der Treppe etwas zu erkennen war. Doch der schwache Schein reichte nicht mal ansatzweise so weit.
Schritt für Schritt machte er sich auf den Weg. Stufe für Stufe.
Es war weiterhin alles still im Haus.
Nur von unten konnte er leise Geräusche hören. Wahrscheinlich Jessica, die im Badezimmer herum wirkte.
„Daniel? Bist du hier?“, fragte er schließlich leise, als er im ersten Stock angekommen war.
Auch hier bot sich ihm ein ähnlicher Anblick wie im Erdgeschoss.
Ein langer Korridor, von dem mehrere Türen abgingen.
Sie waren alle geschlossen.
Bis auf eine.
Langsam ging Liam den Korridor entlang.
Er war kein Angsthase, aber diese alte Villa gab ihm ein ungutes Gefühl, je länger er sich in ihr aufhielt.
Auch die ganze Situation bereitete ihm Unbehagen.
Sollte sich Daniel einen Scherz mit ihnen erlaubt haben, ging dieser viel zu lange und er wäre mittlerweile mit Sicherheit lachend hinter einer Ecke hervorgesprungen und hätte die ganze Sache aufgelöst.
Für einen kurzen Moment hielt Liam inne.
Was war das? Plötzlich hatte er einen komischen Geruch in der Nase.
Jedoch kam er ihm nur allzu bekannt vor.
Ganz leise öffnete er die angelehnte Zimmertür.
Und stutzte.
Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes stand ein Aschenbecher in dem eine Zigarette vor sich hin glimmte.
Dieser Anblick war so surreal, dass Liam sich für einige Sekunden nicht bewegte.
Dann machte er einige Schritte auf den Tisch zu.
Für einen Moment begutachtete er die Zigarette.
Dann kam ihm ein Gedanke, der sein Unbehagen vervielfachte.
Daniel war Nichtraucher... wer hatte hier geraucht? Noch vor wenigen Sekunden.
Langsam wurde Noah ungeduldig.
Schon mehrere Minuten tastete er sich durch den dunklen Keller und stolpert alle paar Meter über irgendetwas, das am Boden herumlag.
Eine Treppe nach oben konnte er bisher allerdings nicht finden.
„Verfluchter Mist!“, dachte er sich und kickte einen alten Fußball zur Seite.
Kurz überlegte er, ob er wieder zurück zur Treppe und nach draußen gehen sollte.
Vielleicht war Daniel mittlerweile aufgetaucht und die anderen saßen bereits im Haus und fragten sich, wo er denn bleiben würde.
Doch dann erspähte er in der Dunkelheit eine Tür.
Sie war halb geöffnet und hinter ihr konnte Noah einige Stufen erkennen.
„Na, geht doch“, seufzte er erleichtert und ging raschen Schrittes auf den Ausgang zu.
Noch einmal musste er an Maya denken und hoffte, dass sie wirklich einfach nur zu den anderen zurückgegangen war und nicht irgendwo draußen in der Kälte die Orientierung verloren hatte.
Noch einmal tastete er nach einem Lichtschalter, doch wieder blieb seine Suche erfolglos.
Seine Hände griffen das Geländer und er begann die Stufen empor zu gehen.
Doch auf halber Höhe hielt er plötzlich wie erstarrt inne.
Jessicas spitzer Schrei zerriss die Stille und ließ seinen ganzen Körper erzittern.
„Wie soll man denn in diesem verdreckten Spiegel etwas sehen?“, maulte Jessica vor sich hin und versuchte den Schmutz mit einem Taschentuch weg zu wischen.
Der jahrelang angesammelte Dreck ließ sich davon jedoch nicht beirren.
Wahrscheinlich wäre es sowieso egal gewesen. In dieser Dunkelheit ihr Make-up aufzufrischen wäre schier unmöglich gewesen.
Sie schmiss die Schmink-Utensilien wieder in ihre Handtasche und drehte am Wasserhahn.
Kein Tropfen kam heraus.
„Ist das dein scheiß Ernst, Daniel?“, knurrte sie, „in was für eine Bruchbude hast du uns hier bitte geführt!“
Sie schulterte ihre Tasche und verließ das Bad.
Im Flur war es nun noch dunkler als zuvor.
Das Schwache Licht aus dem Zimmer am Ende des Ganges war verschwunden.
Hatte Liam es aus gemacht?
Sie betrat den Raum. Niemand da.
„Leute, ganz ehrlich, ich bin diese blöden Scherze leid!“, sagte sie laut.
Jedoch bekam sie keine Antwort.
An der Westseite des Zimmer stand eine Tür offen.
Jessica vermutete, dass Liam wohl dort entlang gegangen sein musste.
Wahrscheinlich lauerte er mit Daniel kichernd in einer Ecke, bereit sie zu erschrecken, wenn sie an ihnen vorbeigehen würde.
Langsam tastete sie sich an der Wand entlang.
Immerhin schien mittlerweile etwas Mondlicht durch die alten Fenster herein, da sich der Sturm etwas gelegt hatte.
Jess rüttelte an der ersten Tür, dann an der zweiten.
Alle Türen waren verschlossen.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Treppe in den ersten Stock zu nehmen.
Jessica seufzte.
So hatte sie sich das Wochenende ganz und gar nicht vorgestellt.
Daniel hatte ihnen von dem ach so tollen Haus am See vorgeschwärmt, in dem sie in aller Ruhe das Wochenende verbringen konnten.
Es gehörte irgend einem Bekannten seines Onkels. Glaubt sie zumindest. Jessica hatte nicht ganz zugehört.
Aber wen interessierte das auch? Sie wollte einfach nur ein tolles Wochenende mit ihren Freunden verbringen und stattdessen lief sie jetzt alleine durch eine Gruselvilla.
Sie hatte gerade einen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als sie das laute Gepolter über sich wahrnahm. Was zur Hölle trieben die Jungs da oben?
Langsam ergriff die Angst, die sie für einige Minuten vergessen hatte, wieder Besitz von ihr.
Jessicas Beine fühlten sich wie Pudding an.
Vorsichtig setzte sie einen wackeligen Schritt nach vorne und ging die Treppe nach oben.
Das Poltern kam aus einem der hinteren Zimmer. Die Tür war nur angelehnt.
Mit zittrigen Fingern berührte Jess das morsche Holz und mit einem Knarzen öffnete sie sich.
Dann schrie sie und rannte um ihr Leben.
Noah sprintete die Kellertreppe hinauf.
„Jess?! Jessica?!“, rief er laut und schaute sich hektisch um.
Laute Schritte kamen immer näher und näher.
Noah rannte in die Richtung, aus der sie kamen.
Dann erblickte er Jessica, die die Treppe aus dem ersten Stock herunter stolperte.
Entsetzen stand ihr ins Gesicht und Tränen liefen über ihre Wangen.
„Jessica, was...?“
„ER HAT SIE UMGEBRACHT!!“, brüllte das Mädchen voller Verzweiflung.
Liam hatte keine Zeit die Situation richtig zu realisieren.
Als er von der glimmenden Zigarette auf sah fiel sein Blick auf eine Ecke des Zimmers.
Der Anblick ließ ihn zu Eis erstarren.
Daniels lebloser Körper lehnte an der Wand.
Aus der tiefen Wunde an seinem Kopf lief Blut herunter und auch in seinem Brustkorb prangte ein riesiger Schnitt.
Sein Bauch war aufgeschlitzt und die Eingeweide quollen heraus.
Liam hatte das Gefühl, als müsse er sich übergeben.
„Was zum...“, stammelte er und versuchte sich wankend am Tisch festzuhalten.
Ein Schwindelgefühl überkam ihm.
Er blickte noch einmal in die Zimmerecke.
Nein, das bildete er sich nicht nur ein.
Noch bevor er noch einen weiteren Gedanken fassen konnte, hörte er die knarrende Tür hinter sich.
Er dreht sich um.
Und die Axt schlug mit einem lauten, knackenden Geräusch in seinen Schädel.
„Jess, wo ist...?“, begann Noah.
„GOTT VERDAMMT, LAU...!!“, schrie Jessica erneut, doch bevor sie das letzte Wort aussprechen konnte, raubte ihr der Schlag in ihren Rücken den Atem.
Keuchend stürzte sie die restlichen Stufen hinunter und schlug auf den harten Dielen auf.
Dort blieb sie regungslos liegen.
Noah stolperte nach hinten und stürzte zu Boden.
Mit schweren, stapfenden Schritten schlurfte der große, bullige Mann die Treppe hinunter.
„Kinder, Kinder, Kinder...“, murmelte er seufzend vor sich hin und strich die blutverschmierte Axt an seinem langen Mantel ab.
Er trug einen alten Hut und hatte langes, zerzaustes Haar, das in dieser Dunkelheit jegliche Sicht auf sein Gesicht unmöglich machte.
Der Mann kam am unteren Ende der Treppe an.
„Ich habe es eurem Freund schon gesagt...“, nuschelte er und verpasste Jessicas leblosem Körper einen Tritt.
„Ungünstiger Zeitpunkt für einen Urlaub am See...“
Dann wanderte sein Blick Richtung Noah.
Das Mondlicht schien durch eines der Flurfenster und beleuchtete das Gesicht des Mannes.
Die Narbe, die quer über seinem rechten Auge verlief, die schiefen Zähne und der ungepflegte Bart machten ihn nur noch beängstigender.
Ein kaum merkliches, schiefes Grinsen umspielte seine Lippen.
„Tick-Tack, Junge... ich gebe dir fünf Sekunden...“
Noahs Augen weiteten sich. Dann rappelte er sich hoch.
Und rannte.
Noah hatte jegliche Orientierung im Haus verloren. Er wusste ja nicht mal wo es zur Eingangstür ging.
Er lief zurück Richtung Keller.
Seine einzige Fluchtmöglichkeit.
Schweißgebadet stolperte er die Stufen hinunter und kämpfte sich den Weg durch den überfüllten Kellerraum.
Er konnte die schweren Schritte des Killers hinter sich hören.
Wieder stolperte er und stürzte zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder hoch.
„Tick... Tack...“, hörte er es leise hinter sich und die schlurfenden Schritte auf der Kellertreppe.
Noah rannte weiter.
Dort war die Treppe nach draußen!
Für einen kurzen Moment überlegte er die Luke zu verbarrikadieren.
Aber der Wahnsinnige würde sie spielend leicht mit seiner Axt zerschlagen.
Noah lief hinaus und rutschte beinahe auf den nassen Stufen aus.
Eschaute sich panisch um.
Doch außer Schnee und Dunkelheit war nicht viel zu erkennen.
Wo sollte er hin?
Seine beste Option war es zurück zum Wagen zu laufen und zu hoffen, dass die Karre nicht im Schnee steckenbleiben würde.
Er lief so schnell er konnte, bog um die Häuserecke Richtung Einfahrt.
Doch bevor er bei seinem Auto ankam fiel er über etwas, das im Schnee lag und stürzte zu Boden.
Noch bevor er sich hochrappeln konnte, realisierte Noah über was er gerade gestolpert war.
Oder besser gesagt, über wen.
Mayas Körper lag regungslos im Schnee.
Ihre leere Augen starrten ihn an.
So kühl.
Und traurig.
Und leblos.
Der Schnee um sie herum war durchtränkt von Blut.
Noahs Augen weiteten sich.
Tränen liefen seine Wangen hinunter und ein markerschütternder Schrei bahnte sich den Weg aus seinem Innersten nach draußen.
Doch bevor er auch nur noch einen Ton von sich geben konnte, stockte ihm der Atem.
„Tick... Tack...“
Das sausende Geräusch der Axt durchschnitt die eisige Luft.
Noah sackte neben seiner Freundin zu Boden.
Die Axt steckte noch in seinem Kopf.
Für einen kurzen Augenblick warf der Mann einen Blick auf die beiden Teenager im Schnee.
Dann griff er in seine Tasche, holte ein Feuerzeug heraus und steckte sich eine Zigarette an.
Noch einmal schaute er hinunter zu den beiden leblosen Körpern.
„Fünf Sekunden Vorsprung waren aber auch echt wenig...“
Er nahm einen kräftigen Zug und stapfte durch den Schnee Richtung See davon.
Das Glimmen der Zigarette tanzte in der Dunkelheit.
Dann verschluckte ihn die Finsternis.
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